Deutsche Meisterin 2025! Der Sieg im Stichkampf über Hanna Marie Klek in München ist ein weiterer Höhepunkt der Karriere von Dinara Wagner, längst eine der prägenden Figuren im deutschen Schach der jüngeren Vergangenheit. Dabei hatte es zunächst nicht gut ausgesehen. In der ersten der beiden Stichkampfpartien steht die 26-Jährige auf Verlust, ehe sie das Blatt wendet. Dank Nervenstärke und Kampfgeist entscheidet sie beide Tie-Break-Partien für sich und gewinnt den Titel.

Dinara Wagner wird am 25. Mai 1999 als Dinara Dordschijewa in Elista geboren, der Hauptstadt der russischen Teilrepublik Kalmückien. Ihr Großvater bringt ihr das Spiel bei, als sie sechs Jahre alt ist. Sogleich entflammt ihre Begeisterung. Und der Ehrgeiz. Bald braucht die kleine Dinara größere Gegner: „Ich bat meine Oma, mich in einen Schachklub zu schicken“, berichtete sie in einem Interview mit Chessbase.

In ihrer Jugend gewinnt Wagner fünfmal die russische Mädchen-Meisterschaft in verschiedenen Altersklassen, ein deutlicher Hinweis auf ihr enormes Talent. 2016 holt sie zudem Bronze bei der U20-Weltmeisterschaft. Doch Wagner hat nicht nur Schach im Kopf. Parallel zu ihren sportlichen Erfolgen legt sie Wert auf Bildung.
In den ersten Jahren nach der Schule spielt Schach nicht die Hauptrolle in ihrem Leben. Dinara zieht nach Moskau und studiert an der Higher School of Economics, wo sie 2020 ihren Bachelorabschluss macht. Dann verlagert sich ihr Lebensmittelpunkt gen Westen. Bald nach dem Abschluss zieht sie nach Deutschland, wo sie an der Universität Heidelberg ein Masterstudium in Volkswirtschaftslehre beginnt – und wo sie ihr privates Glück gefunden hat.
Im Dezember 2021 heiratet Dinara den deutschen Großmeister Dennis Wagner. Seit 2020 leben die beiden zusammen in Heidelberg. Als stärkstes Schach-Ehepaar weit und breit sind beide Botschafter und sportliche Stützen des SC Viernheim. In der Viernheimer Bundesligamannschaft spielen sie Seite an Seite, Dinara als eine der wenigen Frauen in der stärksten Liga der Welt.

„Dinara passt bei uns wunderbar in die erste Mannschaft, menschlich und von der Spielstärke her sowieso“, sagte unser Team- und Vereinschef Stefan Martin gegenüber dem Deutschen Schachbund über die Viernheimer Integrationsfigur Wagner. Die gibt die freundlichen Worte gerne zurück: „Ich bin dankbar für die Gelegenheit, in der Bundesliga zu spielen. Es ist einfach cool, Zeit mit den Viernheimer Top-Großmeistern zu verbringen. Das gibt mir viel Inspiration.“
Rückhalt und Ausgleich findet sie in erster Linie daheim. Dinara und Dennis Wagner wirken auf Außenstehende immer noch wie Frischverliebte. Beim Schach unterstützen sie einander in jeder Hinsicht, tauschen Ideen aus, analysieren gemeinsam, motivieren sich. „Es ist schön, jemanden zu haben, der einen in Sachen Schach vollkommen versteht“, sagt Dinara über die große Gemeinsamkeit mit ihrem Ehemann. Der, hauptberuflich Physiker, vollbringt das Kunststück, Nummer sechs der deutschen Rangliste zu sein und damit nicht weit entfernt von der Nationalmannschaft.
Der russische Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 wird für viele russische Sportler zum Wendepunkt, auch für Dinara Wagner. Sie verlässt den russischen Schachverband und spielt zunächst unter neutraler Flagge. Im Mai 2022 schließt sie sich dem Deutschen Schachbund an, ein logischer Schritt, lebt sie doch längst in Deutschland und fühlt sich hier heimisch, aber auch ein Statement. „Russland möchte ich definitiv nicht repräsentieren“, erklärt sie gegenüber der Süddeutschen Zeitung, die Dinara ausführlich porträtiert.

Ein sportliches Statement lässt nicht lange auf sich warten. Ende April 2022 gewinnt sie das German Masters der Frauen in Darmstadt, ein Rundenturnier der besten deutschen Spielerinnen. Mit diesem Turniersieg hat sie in der nationalen Spitze sogleich einen Pflock eingeschlagen – und die Tür zur internationalen Bühne geöffnet. Als Siegerin des German Masters ist sie im Grand Prix des Weltverbands spielberechtigt, eine Turnierserie des WM-Qualifikationszyklus.
Im Kreis der besten Spielerinnen der Welt geht Dinara Wagner zunächst als niedrigstbewertete Teilnehmerin und klare Außenseiterin in den Wettbewerb. Beim ersten Grand-Prix-Turnier 2022 zahlt sie Lehrgeld. Sie wird Letzte. Und lässt sich nicht entmutigen. Kaum ein halbes Jahr später beim Grand Prix 2023 auf Zypern schreibt sie Schachgeschichte. Wagner gewinnt! Aus elf Partien holt sie sieben Punkte, besiegt unter anderem die Weltklassespielerinnen Aleksandra Goryachkina und Kateryna Lagno (beide Russland).

Mit einer Performance jenseits der 2600 Elo erringt sie auf Zypern neben dem Turniersieg ihre erste Großmeister-Norm. Davon beflügelt, legt sie wenige Wochen später beim Traditionsfestival in Dortmund gleich die zweite nach. Wagner bleibt ungeschlagen und gewinnt auch dieses Turnier souverän mit 7 Punkten aus 9 Partien. Binnen eines Jahres klettert ihre Elozahl von gut 2280 auf knapp 2470, ein Leistungssprung, der dazu führt, dass in der deutschen Rangliste nun nicht mehr Elisabeth Pähtz einsam über allen anderen thront. Deutschland hat jetzt zwei Spitzenspielerinnen auf Augenhöhe, die auch international oben mitmischen können.
„Ich will gar nicht eine neue Elisabeth werden – ich will ich selbst sein“, stellt Wagner klar. Die 14 Jahre ältere Pähtz wiederum freut sich, nach all den Jahren die Führungsrolle zu teilen und mittelfristig abzugeben. Solange sie noch spielt, gibt der Höhenflug Wagners der Nationalmannschaft nicht nur eine zweite Spitzenspielerin, auch taktische Optionen. Jemand wie Dinara, auf höchstem Level stets solide, auch von Weltklassespielerinnen kaum zu bezwingen, fehlte dem Team bislang.

Wer Dinara Wagner abseits des Schachbretts begegnet, erlebt eine stets freundliche, reflektierte junge Frau. Offen, aber kein Lautsprecher. Große Selbstdarstellung ist Wagners Sache nicht, aber sie findet, ihrem Sport und den Leistungen, die Frauen darin erbringen, sollte mehr Aufmerksamkeit zuteilwerden. „Die Berichterstattung über Frauen im Schach könnte besser sein“, betont Dinara Wagner.
Seit den Super-Monaten 2022/23, als sie binnen eines Jahres rund 200 Elopunkte gewann, hat Dinara Wagner weiter Titel und Trophäen gesammelt: Deutscher Meister mit dem SC Viernheim, Europacupsieg (mit einem rumänischen Club), Deutsche Meisterschaft im Blitzschach, jetzt die Deutsche Meisterschaft im klassischen Schach, der Königsdisziplin. Gleichwohl bewegt sie sich nominell seitdem auf einem Plateau.

Ihre Fans bangen, ob Dinara Wagner wieder die Rakete zündet. Sie selbst arbeitet daran, ein weiteres Kapitel ihrer Erfolgsgeschichte zu schreiben. Und sie hat Hilfe, nicht nur aus Viernheim, nicht nur daheim in Heidelberg vom großmeisterlichen Gatten. Der Münchner Unternehmer Roman Krulich hat im Oktober 2024 mit Wagner vereinbart, sie für zwei Jahre bei Training und Turnierlogistik zu unterstützen. Dinara Wagners Ehrgeiz müsse belohnt werden, findet Krulich.
„Ich möchte Großmeister werden“, sagt Wagner, wissend, dass es in der Geschichte des Sports erst gut 40 Frauen gelungen ist, den höchsten Titel, den es im Schach gibt, zu erreichen. Aber es fehlt ja nicht mehr viel. Eine Norm muss sie noch schaffen, und die Elozahl über 2500 liften. Mit einer Elo über 2500 stünde sie unter den besten Zehn der Welt. Dass sie in dieser Elite mitspielen kann, hat Dinara Wagner längst bewiesen.