Igor Kovalenko kehrt zurück ans Schachbrett. Drei Jahre lang, seit April 2022, hat der ukrainische Großmeister an der Front im Osten der Ukraine gekämpft, ausgezeichnet mit einem Orden "für Tapferkeit" von Präsident Volodymyr Zelenskyy. Zuletzt im November 2022 spielte er für uns in der Schachbundesliga, bevor die Intensität der Kämpfe weitere Einsätze unmöglich machte. 2025/26 wird er wieder Teil der ersten Mannschaft des SC Viernheim sein – sportlich und menschlich eine besondere Verstärkung.
Mit einer Elo-Zahl von 2676 steht Igor auf Rang 46 der Weltrangliste. Nominell zählt er damit weiterhin zur erweiterten Weltspitze, lässt aber im Interview durchblicken, dass er nach langer Pause nicht einzuschätzen vermag, wo er tatsächlich steht. Von der ukrainischen Armee hat er jetzt den Auftrag, sich gesundheitlich vollständig zu erholen, um künftig die ukrainische Nationalmannschaft zu stärken und Schach in seiner Heimat populärer zu machen. Auch als jüdisch-messianischer Geistlicher ist er gefragt.
Im Interview für unsere Vereinshomepage spricht Igor Kovalenko erstmals ausführlich über seine dramatischen Erfahrungen an der Front, darüber, wie der Krieg ihn verändert hat, und welche Ziele er jetzt verfolgt – als Schachspieler, Geistlicher und Mensch.
Igor, im Interview vor zwei Jahren sagtest du, dass du dich darauf einstellst, noch „ein paar Jahre im Wald“ zu verbringen. Die Zeit im Wald scheint nun vorbei zu sein. Bist du dauerhaft aus dem Fronteinsatz zurückgekehrt – und wenn ja, wie kam es dazu?
Ich hoffe, dass mein Einsatz im Rahmen meiner militärischen Aufgabe nun vorbei ist. Aber da ich weiterhin Teil der ukrainischen Streitkräfte bin, kann es sein, dass ich zurückkehre, falls sich die Lage verschlechtert und das Kommando entscheidet, dass ich wieder gebraucht werde. Das Ganze ist jetzt eher spontan passiert. Details dazu kann ich nicht nennen.
Vor zwei Jahren warst du im Oblast Donezk stationiert, um mit deiner Einheit russische Drohnen zu bekämpfen. Das Gesicht der Front verändert sich seitdem rasant: FPV-Drohnen, Glasfaser-Drohnen, Gleitbomben, allgegenwärtige Aufklärung und Bedrohung auch hinter den Linien. Vor dem Hintergrund dieser Gemengelage: Was war in den vergangenen Monaten deine Aufgabe?
Ich war durchgehend bei der Drohnenbekämpfung tätig. Und habe mich dort in den vergangenen zweieinhalb Jahren weiterentwickelt. In verschiedenen Funktionen: vom Anfänger am Gefechtsstand bis zum „Dirigenten“ unseres „Ensembles“ auf operativer Ebene. Die Technologie verändert sich so schnell, dass alle zwei Wochen etwas Neues auftaucht – man muss sich laufend anpassen, die Herangehensweise ändern und manchmal, um eine Schach-Analogie zu benutzen, sogar die Figuren auf dem Brett umstellen, weil das Spielfeld plötzlich völlig anders strukturiert ist.
Im Kampf um die Freiheit deiner Heimat hast du täglich dein Leben riskiert. Kehrst du körperlich unversehrt von der Front zurück?
„Täglich riskiert“ – das habe ich nicht verdient, im Gegensatz zu meinem Bruder, auch der ein großer Schachfreund. Aber ja, das Risiko war mein ständiger Begleiter. Es wurde zum Teil des Alltags. Als ich aus dem Donbass zurückkehrte, begann mein Körper sich zu entspannen – und plötzlich zeigten sich die Folgen: Krämpfe, Nervenschmerzen, Knieprobleme und andere Beschwerden, die ich nie zuvor hatte. Es war, als hätte mein Unterbewusstsein einen „Alarmstopp“ gegeben – und prompt meldeten mein Körper und seine Organe Urlaub an.

In einem Post Anfang März auf Twitter hast du festgestellt, wie sehr dich die Belastung äußerlich verändert hat. Wie sieht es innerlich aus? Igor im Januar 2022 versus Igor im Juli 2025 – was unterscheidet die beiden?
Igor 2025 schätzt jeden Tag, jeden Moment viel mehr – und betrachtet Alltagsprobleme als unwichtig. Igor 2022 führte philosophische Gespräche mit dem Leben. Igor 2025 will mit dem Leben befreundet sein, nicht ihm Ratschläge geben. Ich lebe in Kyjiw. Nichts hier schreckt mich. Ich schlafe immer noch im Schlafsack – als wäre ich noch im Schützengraben bei Awdijiwka. Früher suchte ich nach Menschen zum Reden, jetzt suche ich Menschen, mit denen ich schweigen kann.
Wie sieht dein Alltag aus?
In Kyjiw bin ich dem Zentralen Sportklub der Armee zugeteilt. Dadurch kann ich mich sportlich und schachlich betätigen und mit medizinischer Betreuung so lange regenerieren wie nötig. Mein Auftrag lautet: wieder fit werden, um die Ukraine in der Nationalmannschaft würdig zu vertreten und das Schachspiel in der Gesellschaft populärer zu machen. Genau in diese Richtung gehe ich jetzt.
Und deine Rolle als Geistlicher?
Ich habe Zugang zu vielen Einrichtungen, in denen Kameraden untergebracht sind, die aus der Gefangenschaft zurückgekehrt sind oder verwundet wurden. Mein christlicher Fokus liegt derzeit dort. Ich habe Leute gefunden, mit denen ich 2023 bei Awdijiwka zusammen war – sie waren in Gefangenschaft. Jetzt sind sie zurück und erholen sich körperlich. Meine Berufung vor Gott ist es, ihnen beim Wiederaufbau ihrer Seele zu helfen.
Du hast geplant, nach dem Krieg Bücher zu schreiben. Einen Schach-Eröffnungskurs hast du gerade veröffentlicht, aber das meintest du wahrscheinlich nicht mit „Bücher schreiben“. Planst du aufzuschreiben, was du erlebt und gelernt hast?
Ja, natürlich. Ich denke über mehrere Bücher zum Thema Schach nach, aber mein Fokus liegt auf dem Weg von CBV (ChessBase-Dateiformat) zu FPV (First Person View – Drohnensteuerung), vom Kamikaze-Springer auf dem Brett mit klaren Schwarz- und Weißfiguren zu Kamikaze-Drohnen in einem Spiel mit vielen Grautönen, in dem es trotzdem schwer ist, Freund und Feind zu verwechseln.
Schach, sagtest du, sei deine Brücke ins normale Leben. Trotz Krieg hast du unter extremen Bedingungen weiter online Schach gespielt, auch wenn du dafür Schlaf opfern musstest. Was bedeutet dir der Sport heute – jetzt, wo du wieder mehr Raum dafür hast, wieder am Brett spielen kannst?
Schach ist für mich jetzt meine Arbeit, und seine Arbeit muss man gut machen. Schach verdient Respekt, aber es soll nicht mein ganzes Leben bestimmen. Wie jede Sportart ist es ein Werkzeug, um ein besserer Mensch zu werden. Ich beschäftige mich jetzt wieder mehr mit Eröffnungen. In der Theorie hat sich in den vergangenen drei Jahren viel getan. Außerdem muss ich meinen Stil und mein Repertoire an meine Möglichkeiten anpassen.
Nominell stehst du mit einer Elozahl von 2676 auf Rang 46 der Weltrangliste. Glaubst du, dass du anknüpfen kannst, wo du vor drei Jahren aufgehört hast?
Ich denke, ich kann es zurück in die Top 100 schaffen. Aber nicht in die Top 50 – das würde zu viel Arbeit erfordern, und ich möchte dem Schach nicht mehr so viel meines Lebens opfern, nur um ein paar Dutzend Plätze besser zu sein. Ein weiser Mann sagte vor 3000 Jahren: „Alles hat seine Zeit.“ Meine Zeit, um nach oben zu klettern, ist vorbei. Jetzt geht es darum, das Beste aus dem zu machen, was da ist – nicht mehr.
(Kovalenko bezieht sich auf König Salomo, dem das biblische Buch Kohelet (Prediger) zugeschrieben wird. Die Formulierung stammt aus Kapitel 3, Vers 1: „Alles hat seine Zeit, und jedes Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde.“; Anm. d. Red.)
Was erwartest du von deinem ersten Turnier, dem Rubinstein-Memorial im August in Polen? In einem Feld von sehr starken Großmeistern bist du hinter Aravindh, einem anderen Viernheimer, an zwei gesetzt.
Ich mache mir etwas Sorgen um mein Spiel, weil ich derzeit meinen wahren Level nicht kenne. Vielleicht spiele ich solide, mache aber grobe taktische Fehler. Oder ich halte nur die ersten Partien durch, aber dann geht mir die Puste aus. Oder vielleicht bin ich nur noch ein schwacher GM und verliere viele Partien. Die zentrale Frage ist: Wie stark bin ich über mehrere Partien hinweg? Deshalb ist mein Ziel einfach: wenig verlieren. Wenn man es mit Gewichtheben vergleicht: Ich will einfach das Gewicht halten.
Der SC Viernheim hat einige Ukrainer in seinen Reihen und sich anders als andere Bundesligisten stets klar positioniert. Was bedeutet dir jetzt die Rückkehr als Spieler in die Bundesligamannschaft?
Zuerst: Respekt für die klare Haltung und die Unterstützung. Zweitens: Danke für das Vertrauen, die Freundschaft und dass man mir zutraut, noch helfen zu können. Ich habe immer versucht, alles zu geben. Dass die Bundesliga in Deutschland nach dem Wochenendmodus läuft, hilft mir bei der Umstellung. Ich werde bis dahin noch ein paar Turniere spielen, dann sind meine „Gelenke geölt“ und knarzen nicht mehr so laut. Der lange Bedenkzeitmodus in der Bundesliga passt gut zu meinem etwas in die Jahre gekommenen Spielstil.
(Das Interview wurde per E-Mail auf Ukrainisch geführt.)
